Chen Jianghong (Text + Illustrationen). Aus dem Französischen von Erika und Karl A. Klewer. Beltz&Gelberg, 2009 (Minimax). [Le cheval magique de Han Gan, 2004]
Während überall Weihnachtsbücher vorgestellt und beworben werden, stellen wir hier weiter einfach Bücher vor, die zu unserem Blog passen. Das ganze Jahr über haben wir an keinem „Tag der Erde“, „Hispanic Heritage Month“ oder sonstigen bedeutungsschweren Tagen oder Monaten teilgenommen. Nicht, dass ich diese überflüssig finde. Nein, einige davon finde ich gut, denn sie erinnern an wichtige Themen. Aber es ist ein bisschen wie mit dem Muttertag: ist nicht jeder Tag Muttertag? Ist nicht jeder Tag dazu da, Frauen, die Erde, die Vorfahren, die Mitbürger anderer Herkunft, anderer Hautfarbe usw. zu feiern und ihrer zu gedenken? Zu diesen spezifischen Tagen gibt es, finde ich, genug Social-Media-Accounts, die sich inhaltlich danach richten und wo, by the way, oftmals die gleichen Bücher vorgestellt und gepusht werden. Daher genieße ich nun die Freiheit, kurz nach dem Nikolaustag ein Buch aus dem alten China vorzustellen, das mit der deutschen Tradition des Nikolauses so überhaupt nichts zu tun hat.
Das Buch „Han Gan und das Wunderpferd“ erschien zunächst 2004 im Moritz Verlag und wurde 2005 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. 2009 kam es als Minimax-Ausgabe in Kooperation mit Beltz&Gelberg heraus, die mit 15 x 19 cm zwar den Illustrationen etwas an Beeindruckendem nimmt, aber für Familien „on the move“ einfach handlicher ist. Dieses kleine Büchlein wird aktuell von allen drei Kindern sehr geliebt, da allesamt gerade ziemlich verrückt nach Pferden sind.

Jianghong erzählt die Geschichte des Malers Han Gan, der tatsächlich vor über 1000 Jahren in China lebte und für seine Darstellungen von Pferden bis heute bekannt ist. Der junge Han Gan schafft es trotz seiner armen Herkunft bis zur Hofmalergilde des Kaisers. Seine Besonderheit: er will ausschließlich Pferde malen und je echter sie aussehen, desto zufriedener ist er. Schnell erfährt man, dass es mit seinen Pferden etwas Besonderes auf sich hat, denn er malt sie immer angebunden, damit sie, laut ihrem Schöpfer, nicht davonlaufen! Eines Tages verlangt ein berühmter Krieger von ihm „das feurigste und stärkste Schlachtross […], das es je gegeben hat“. Dank dieses Pferdes ist der Krieger stark und unbesiegbar, doch er wird unersättlich und will immer weiterkämpfen, „bis kein einziger Feind mehr am Leben war“. Bei so viel Leid und Schrecken kommen dem Pferd die Tränen, es wirft seinen Reiter ab und flieht. Nach langer Suche erreicht der Krieger wieder das Haus von Han Gan und findet dort auf einem Gemälde sein Schlachtross wieder. Der Maler erklärt ihm: „Ich hatte fünf Pferde gemalt. Als ich eines Morgens aufwachte, waren es auf einmal sechs. Dort auf meinem Bild lebt es jetzt mit seinen Freunden und es geht ihm gut dabei.“
Die Geschichte wird mit reduziertem Text erzählt und von großen, seitenfüllenden Illustrationen begleitet. Vorherrschende Farben sind schwarz, beige und rot. Die Menschen haben alle lange Kaftane an und häufig lange Haare zum Dutt nach oben gebunden. Obwohl es einige Überschneidungen mit unserem vorangehenden Pferdebuch „Kleines Pferdchen Mahabat“ aus dem gleichen Verlag gibt, könnten die Illustrationen nicht unterschiedlicher sein. Bei Jianghong gibt es keine Verklärung, nichts Romantisches, nichts Kleinkindliches.

Die Tuschezeichnungen sind mitunter nicht besonders lieblich: der Kaiser und der Krieger haben furchteinflößende Gesichtsausdrücke und auch die Pferde sind manchmal aufgetürmte Fleischmassen. Doch diese fehlende Verlieblichung scheint mir wertvoll zu sein. Die sich aufbäumenden Pferde, die flatternden Umhänge, fliegende Pfeile und die nach oben gebogenen Augenbrauen des Kriegers sind Ausdruck von Gewalt, Ungestüm und vielleicht sogar eine gewisse Rohheit des Lebens. Man vergesse nicht, dass Han Gan aus einer so armen Familie kam, dass er sich nie selbst Zeichenmaterial kaufen konnte. Doch neben diesen eher wilden Darstellungen gibt es auch zauberhaft filigrane Zeichnungen: die Gäste eines Gasthauses, die an einem großen Tisch zu Beginn verschiedene Speisen aus Körben (dumplings!) essen und Tee trinken, die niedrigen Tische mit Pinseln, Zeichenrollen und Sitzhockern, eine große Teekanne, die detailliert dargestellte Kleidung der Leute.

Und doch geht es auch hier um den Zauber. Den Zauber der Kunst und das Verhalten der Menschen, wo wir dann doch wieder bei der Selbstreflektion der Kunst sind, die nun wirklich das Thema der Romantik war. Ist es nicht eine wunderbare Idee, dass ein Pferd aus der Kunst in die Realität kommt, sich jedoch wieder in die Kunstwelt zurückzieht, da die menschliche Realität zu grausam ist? Neben diesem Trost-Gedanken, der eher für die erwachsenen Vorleser ist, erlaubt die Geschichte mit den Kindern über das Verhältnis und das Verhalten von Mensch und Tier, Mensch und Mensch sowie über das Maßhalten zu sprechen. Und natürlich über den Zauber und die Macht der Kunst.
©Kathrin Schneider