Maria had a little Llama. María tenía una llamita. Angela Dominguez (Text+Illustrationen). Henry Holt, 2013.
Dieses großformatige Buch mit großen gemalten Bildern und wenig Text ist eine zweisprachige Ausgabe (englisch-spanisch) und eine südamerikanische Adaptation von „Mary“ und ihrem kleinen Lamm. „Mary had a little lamb“ ist einer der bekanntesten englischsprachigen Kinderreime und soll angeblich auf einer wahren Begebenheit basieren. Sarah Josepha Hale veröffentlichte das Gedicht 1830 und gibt an, die Geschichte als Lehrerin in einer Schule in Newport, New Hampshire erlebt zu haben (an anderer Stelle wird gesagt, sie habe sich alles ausgedacht). 1876 gab Mary Tyler, geb. Sawyer, an, die Mary des Gedichtes zu sein. 1815, damals neunjährig (an anderer Stelle wird von einer Vierzehnjährigen gesprochen), hätte sie ein krankes, von seiner Mutter verlassenes Lamm gefunden und entgegen aller pessimistischen Vermutungen geschafft, es aufzuziehen. Dieses schneeweiße Lamm folgte ihr daraufhin überall, bis in die Schule (Redstone School). John Roulstone, ein älterer Schüler, fertigte am folgenden Tag ein dreistrophiges Gedicht an. Hale wiederum veröffentlichte ein sechsstrophiges Gedicht, deren erste drei Stophen angeblich die von Roulstone sind. Die Entstehung des Reimes kann nicht entgültig geklärt werden, die Kontroverse über die Autorschaft bleibt ungelöst. Hale veröffentlichte zuerst und Sawyer konnte ihre Version nicht beweisen. Andererseits war Hale eine bekannte Schriftstellerin und Herausgeberin, die leicht von den ersten drei Strophen erfahren und sie um drei weitere ergänzt haben konnte.
Mary had a little lamb;
Its fleece was white as snow;
And everywhere that Mary went,
The lamb was sure to go.
It followed her to school one day,
Which was against the rule;
It made the children laugh and play
To see a lamb at school.
And so the teacher turned it out;
But still it lingered near,
And waited patiently about
Till Mary did appear.
And then he ran to her, and laid
His head upon her arm,
As if he said, “I’m not afraid;
You’ll shield me from all harm.”
„Why does the lamb love Mary so?“
The eager children cry.
„Why, Mary loves the lamb, you know,“
The teacher did reply.
“And you, each gentle animal,
In confidence may bind,
And make them follow at your call,
If you are always kind.”
Interessanterweise ist der Kinderreim sehr verankert in der US-amerikanischen Kultur. Thomas Edison rezitierte das Gedicht 1877 auf seinem neu erfundenen Phonografen, um seine Funktionalität zu prüfen. Henry Ford, der Automobilbauer, nahm wohl Mary Sawyers Seite ein, schrieb ein Buch über sie und zog die Redstone School nach Sudbury (im US-Bundesstaat Massachussets) um. Und natürlich macht sich die Ortschaft Sterling (Massachusetts), wo Mary Sawyer lebte, die Geschichte für den Lokalkolorit zu Nutzen: man findet eine Statue des kleinen Lamms und ein restauriertes Wohnhaus der Familie Sawyer (die Schule ist ja nun weg…).
In dem Kinderbuch von Dominguez wurde die Geschichte von Marys Lamm nun an die Lebenswelt der Anden in Südamerika angepasst und Marias besonderer tierischer Freund ist ein kleines schneeweißes Lama. In den peruanischen Anden angesiedelt (Cuzco und Machu Picchu werden auf einer Landkarte genannt) lebt Maria in einem sehr dörflichen Setting. Die Geschichte ist ultra einfach und entspricht dem oben genannten Kinderreim. Es treten auf: Maria und ihr Lama, die Lehrerin und die Mitschüler, die Dorfgemeinschaft. Der englische Text im Buch ist eine leichte Abwandlung der oben genannten ersten drei Strophen und der fünften, plus deren spanische Übersetzung.

Meine Kinder kennen natürlich den bekannten US-amerikanischen Kinderreim nicht und haben keinerlei emotionalen Bezug dazu, weswegen sie sicherlich weniger mit dem Text anfangen können als US-amerikanische Kinder. Für uns ist es dennoch ein interessantes Buch: Erstens sind der Text und die Geschichte sehr süß und zweitens sind die Illustrationen wunderschön. Man fühlt sich förmlich in den südamerikanischen Anden: die traditionelle Kleidung, Musik und Instrumente, natürlich die Lamas/Alpakas und die Häuser/Architektur. Angela Dominguez, selbst mit mexikanisch-us-amerikanischem Erbe, hat bisher mehr illustriert als geschrieben und darin liegt auch bei diesem Buch für uns der Reiz. Die Illustrationen sind wirklich total putzig! Sehr kindgerecht und ja – eine heile Welt, in der Maria eine naive und treuherzige Freundschaft mit einem Tierjungen hat. Es gibt grüne Weiten, umrandet von grünen Gebirgsketten. Zweistöckige Häuser mit Holzverarbeitungen und flachem Ziegeldach, vereinzelt Marktstände, die Wassermelonen feilbieten, und natürlich die charakteristische Dorfkirche mit den niedrigen Zwillingstürmen. Genauso sieht es in Ecuador auch aus und ich hoffe, damit den Kindern einen Erkennungswert zu bescheren.

Besonders reizend sind in dem Buch auch die kleinen dekorativen Illustrationen am Anfang und Ende des Buches sowie auf den Seiten, die sonst nur Text präsentieren. Den fast fünfjährigen Kiddies ist die Geschichte schon ein bisschen langweilig, aber ich finde es einfach nur putzig! Außerdem fallen mir sofort einige „Rechercheaufträge“ zu den Lokalitäten (Peru, Cuzco, Macchu Picchu) sowie zu den portraitierten Kleidungsstilen ein. Örtlichkeiten und Sehenswürdigkeiten kann man beispielsweise im Buch „Maps“ nachsehen lassen (Peru ist vorhanden!). Neben weiten, langen Röcken und Ponchos sieht man im Buch Kopfbedeckungen, die bei den Erwachsenen leuchtend rot sind und ein wenig wie eine große Schüssel aussehen. Es handelt sich vermutlich um Quechua, die eine solche Kopfbedeckung tragen. Zu den traditionellen andinen Kleidungsstilen haben wir bisher leider nur ein Buch, in dem Quechuas vorkommen (Besprechung geplant). Auch in Ecuador gibt es ähnliche Ausprägungen, aber insgesamt fällt die Vielzahl von Kleidungsstilen auf, je nach Zugehörigkeit zu den „nacionalidades“ der Indigenas. Ein Buch darüber, noch besser ein Kinderbuch, wäre überfällig.
Nachdem man die südamerikanische Seite somit vertiefen kann, wäre zu überlegen, ob man die us-amerikanische Seite auch anreissen kann. Man könnte eventuell Illustrationen zum originalen Kinderreim mit der südamerikanischen Version vergleichen. Man könnte auch das Leben Anfang des 19. Jahrhunderts thematisieren: ein Foto der Redstone School zeigt beispielsweise, dass es nur ein Klassenzimmer gab. Um den Kreis bis nach Deutschland zu schließen, wäre es interessant, mit einem deutschen Kinderreim oder Illustrationen zu vergleichen … Und natürlich sollte man sich durchaus über die Moral der Geschichte unterhalten und die Beziehung zu einem Tier reflektieren. Warum läuft das Lama Maria denn tatsächlich ständig nach? Ein recht komplexes Thema der Beziehung zwischen Mensch und Tier, das ethische und hochaktuelle Diskussionen erlaubt – allerdings mit einer anderen Altersgruppe! Ein Kinderbuch für die ganz Kleinen also, das durchaus auch Gesprächsstoff und Darstellungen für Ältere bietet.
© Kathrin Schneider
